Das Mädchen das im Krieg verloren ging, Leseprobe



„Zieht euch an! Zieht so viel an, wie ihr übereinander tragen könnt. Unterhemden, Strümpfe, Pullover, Hosen, Kleider, alles zwei-, dreimal übereinander, vor allem die warmen Sachen“, befahl uns Mutter, als sie an jenem eiskalten Sonntagmorgen im Winter 1945 zu uns Kindern ins Zimmer kam. „Wir fahren heute mit dem Zug weit weg und kommen so schnell nicht wieder nach Hause.“ Ich erschrak. „Warum denn?“, wollte ich wissen. „Fragt nicht, zieht euch an!

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Und ich hatte keine Vorstellung von dem, was uns bevorstand, natürlich nicht. Wir waren am Anfang unseres Marsches ins Ungewisse, auf dem ich erfahren sollte, was Menschen aushalten und wozu sie fähig sind, um zu überleben. Der Auszug aus unserem Haus in Greifenberg war für mich nicht nur ein Abschied von der Heimat, sondern auch von der Kindheit.“ ...

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Eines Morgens im Frühjahr, ich stand wie meistens um diese Zeit, am Brunnen und wusch das Milchgeschirr, hörte ich plötzlich lautes Motorendröhnen, rasselndes Donnern, das anschwoll und näher kam. Die Erde vibrierte. Ich erschrak. Und als ich eine Kolonne von Militärjeeps und Panzern die Dorfstraße entlang fahren sah, schoss mir ein lähmender Schmerz mir in Arme und Beine. Feindliche Soldaten, der Krieg hier im Dorf! Der Bauer kam aus dem Stall gerannt, stürzte ins Wohnhaus. Kurz darauf sah ich, dass er ein weißes Laken, festgebunden an einem Besenstil, aus einem Fenster im ersten Stock hängte, kurz schwenkte und dann dort flattern ließ. Wenig später kam er wieder aus dem Haus gerannt und stellte sich zu seiner Frau, seiner Tochter und dem Knecht, die sich vor der Hausfront aufgereiht hatten. Die Militärkolonne hielt an. Männer in Geländeanzügen und mit Maschinengewehren in den Armen sprangen aus ihren Jeeps und Panzern und stürmten auf die Häuser links und rechts der Dorfstraße zu. „Deutsche Soldaten hier?“ Im Befehlston fragten zwei dieser Männer die Bauersleute und deuteten mit den Gewehrkolben auf das Haus. Die schüttelten heftig mit dem Kopf. „Nein, niemand!“, sagten der Bauer und seine Frau und blickten ängstlich auf die Maschinengewehre. Das war gelogen. Ich wusste, dass sich drei Soldaten der deutschen Wehrmacht im Haus versteckt hielten. Die Bäuerin blickte mich an, ich blieb reglos stehen und erwiderte ihren Blick. „Ich sage nichts“, bedeutete ich ihr und schwieg. Die Militärs liefen ins Haus, man hörte sie die Treppen hoch poltern. Kurz darauf traten sie wieder aus der Haustüre. Sie hatten niemanden entdeckt.

Die Bauersleute waren die ganze Zeit wie angewurzelt stehen geblieben. Nachdem die Männer zum nächsten Haus gelaufen waren, entspannten sie sich allmählich. Der Bauer blickte sich um, entgeistert. „Der Krieg ist aus“, sagte er mehrmals, jedes Mal lauter. Dann stieß er einen Freudenschrei aus, riss die Arme hoch und umarmte seine Frau und seine Tochter. „Du musst keine Angst mehr haben“, rief er mir zu. „Der Krieg ist aus! Frieden! Wir haben Frieden!“

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„Was essen wir heute?“ Das war unsere Hauptsorge. Täglich schickte Mutter uns los. „Geht mal gucken, ob nicht noch ein Bauer Kartoffeln oder Rüben erntet und fragt, ob ihr was kriegt. Aber kommt mir ja nicht ohne etwas Essbares zurück!“ Wir machten uns auf den Weg und fragten. Meistens wurden wir abgewiesen. Dann zogen wir weiter durch die Äcker und Gemüsefelder, die noch nicht abgeerntet waren. Überall streunten Menschen mit Rucksäcken und Einkaufsnetzen herum, auf der Pirsch nach Nahrung, wie wir. Oft waren es Männer, Kriegsheimkehrer, die aus der Stadt kamen und die ganze Umgebung nach etwas Essbarem absuchten. Die Bauern versuchten ihre Ernte zu verteidigen und bewachten ihre Felder, so dass wir nie wussten, ob die Herumstreichenden nun stehlen wollten, wie wir, oder ob sie zu den Bauern gehörten und die Äcker beaufsichtigten. Aus Mitleid mit uns Kindern gaben uns manche der Männer von dem ab, was sie selber gestohlen hatten. Aber wir waren immer vorsichtig, auf der Hut vor denen, die sich uns näherten. Wo wir uns unbeobachtet fühlten, gruben wir hastig mit den Händen ein paar Möhren, Steckrüben oder Kartoffeln aus, rissen einen Kohlkopf ab und rannten davon. Schnell fanden wir heraus, wo die dicksten Rüben wuchsen: nicht in den Randfurchen, sondern in der Mitte des Feldes.

Einmal entdeckte uns ein Bauer, während wir Steckrüben aus seinem Acker buddelten. „Haut sofort ab!“, schrie er, „sonst hetze ich den Hund auf euch.“ Wir wollten noch rasch die Rüben aufsammeln, die wir gerade ausgegraben hatten. Da schoss auch schon der schwarze Dobermann des Bauern auf uns zu. Schnell ließen wir alles fallen und rannten los. Daraufhin pfiff der Ackerbesitzer seinen Hund wieder zurück.

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Der Sommer verging. Allmählich leerte sich das Lager und wir Menzes gehörten zu den wenigen Lagerinsassen, für die noch keine Wohnung gefunden worden war. Eines Tages im September erhielten wir Bescheid, dass man für uns in Berau, einem Dorf unweit vom Lager, eine Wohnung aufgetan habe. Wieder kam ein Lastwagen, zwei Männer luden unsere Habseligkeiten auf und brachten uns zu unserer neuen Unterkunft. Die Fahrt ging über Serpentinen einen steilen, Wald bewachsenen Berg hoch. Der Wagen schlängelte sich die kurvenreiche Strecke empor. Mir wurde übel. Endlich kamen wir in Berau an, einem 500-Seelen-Ort mitten im Schwarzwald. Der Laster hielt vor einem Bauernhof. Ich wunderte mich und dachte: „Hier können wir doch gar nicht einziehen, hier wohnen doch die Bauern.“  Da sah ich, dass die beiden Männer unsere Sachen in einem kleinen Nebengebäude hinter dem Bauernhaus abstellten. Ich traute meinen Augen nicht, als ich den Anbau betrat. Er war mehr Schuppen als Wohnung. Die Haustüre führte in einen langen Flur, an dessen Ende sich ein feuchter Raum mit Betonfußboden befand. Aus einer Wand ragte ein verrosteter Wasserhahn, an dem ein alter, brüchiger Schlauch hing. Daneben stand ein verstaubter, angerosteter Herd. Auf dem Boden standen drei rostige Blechtröge. In der Mitte des Bodens war ein kleines Loch, ein Ablaufschacht. Teilweise bröckelte der bräunliche, ungestrichene Putz von den Wänden. Es roch modrig in dem Raum und stank nach Abfall und als ich aus dem Fenster sah, wusste ich auch, warum. Direkt neben dem Anbau ging ein Abhang hoch, eine Mülldeponie, auf der neben Schutt und ausrangierten Maschinen auch Küchenabfälle lagen. Am helllichten Tage sah ich dort Ratten und Mäuse herumlaufen.


© 2005, Pattloch

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